Das laute und sehr eindringliche Hupen des Fahrers in der S-Klasse hinter mir katapultiert mich während der allabendlichen Rush Hour auf dem Ku’damm aus meinem Sekundenschlaf. In einem Lichtermeer aus abertausenden Glühbirnen, die wie die Brut aus Glühwürmchen und Stern in den Bäumen hängen, schieben sich die snobistischen Blechlawinen von Mitte Richtung Avus und zurück. Und ich mitten drin. Eingeschlossen im Verkehr, ungeduldig und müde. Wobei mitten drin all das auf den Punkt bringt, was mir gerade durch den Kopf geht. Mit grellen Lichtkegeln vor den Augen setze ich meinen Wagen langsam in Bewegung, um keine zehn Sekunden später an der nächsten roten Ampel halten zu müssen.
Meine Fingerknöchel stechen weiß aus der Faust hervor, die sich um das Lenkrad krallt, meine Augen sind staubtrocken von der heißen Luft des Gebläses. Wenn ich feuchte Augen haben möchte, muss ich die Heizung ausmachen – dann friere ich jedoch. So fahre ich lieber halbblind, aber gewärmt durch den Verkehr. Halbblinder und warmer Verkehr – ich lächle in mich hinein, schüttle den Kopf im Takt der Metapher und danke der Realität für diesen Wink mit dem Zaunpfahl.

Denn sie ist es auch, die mich wieder aus meinen Abendträumen holt und mir diesen übergroßen, gigantischen Weihnachtsmann präsentiert, der sich am Olivaer Platz wie eine Mischung aus Nazi und Santa vor mir erhebt. Jedes verdammte Mal wenn ich an diesen Ungetüm vorbei fahre denke ich mir, wer in Gottes Namen kommt auf die Idee einen Weihnachtsmann zu basteln – gefühlte 20 Meter hoch – der seinen rechten Arm gen Himmel streckt? Mein Humor erlaubt mir ein Lachen, ich finde es sogar grandios. Grandios-skurril  finde ich es und freue mich jedes Mal, wenn ich an dieser weihnachtlichen Fehlproduktion vorbei fahre. Heil Christmas murmelnd schleiche mit 15 Stundenkilometern an den stromfressenden Glühwurm-Bäumen vorbei, deren Aufgabe es doch eigentlich ist, unsere Erde mit Sauerstoff zu versorgen.

Ich hasse Weihnachten – nicht wegen der Lichter, nicht wegen des Trubels, auch nicht wegen Jesus oder dem Papst. Ich hasse es, weil ich es nicht feiere. Wie ein Mitte-Opfer fühle ich mich gerade, so zwischen Nazi-Santa am Olivaer und Giganto-Chanukkia mitten auf dem Adenauer Platz. Wie ein Mitte-Opfer, dessen sporadische Identitätskonflikte auf 500 Kudamm-Metern plakativ zu Schau gestellt werden. Da bin ich wieder: In der Mitte. In der Mitte meines Kiezes, in der Mitte zweier Religionen, mitten im Stau und mittendrin statt nur dabei. Im Radio läuft Let it snow. Mit einem lauten halts Maul drücke ich viel zu fest mit meinem Zeigefinger auf die Radio-Tasten, um der besinnlichen Beschallung zu entkommen. Was wird hier gerade aus mir, der ewig-meckernde Jude? Ich tausche Let it Snow gegen Hangover, schaffe eine Strophe dieser unerträglichen gequirlten Scheiße und mache dann ganz aus.

Aus Protest pfeife ich Maoz Tsur vor mich hin und kreiere damit mein ganz persönliches Chanukka-Mobil. Gegen wen ich im geschlossenen Auto protestiere, weiß ich nicht genau – entweder gegen einer Teil meiner Selbst oder gegen die beseelten Nichtjuden, die voll bepackt mit tollen Sachen über den Bürgersteig schlendern. Ich bin meine eigene Occupy- Bewegung und nenne sie Shmoccupy. Diese Wahnsinns-Idee rast mir nicht ohne Fremdschämen durch den Kopf. Gerade noch im seriösen Meeting und jetzt als Präsidentin von Shmoccupy im Auto. Auf dem Boden der Beifahrerseite rollt das Sonnenblumenöl bei jeder Bremsung durch die Gegend. Die Chanukka-Kerzen sind bereits zur Hälfte zerbrochen, da ich sie natürlich seit zwei Tagen lieber in meiner Handtasche durch die Gegen trage, als sie ordentlich in der Kommode zu verstauen. Ein Kilo Kartoffeln wartet darauf geschält zu werden und mein Besuch kommt schon in einer Stunde. Es ist der erste Abend von Chanukka, meine Familie am andern Ende Deutschlands und ich – mittendrin, mittelmäßig müde und mäßig gelaunt – in meinem geliebten Berlin. Mir ist schlecht, mein Magen fühlt sich flau an und meine Kehle lechzt nach Wasser. Das mag an den 24 kleinen Tafeln Schokolade liegen, die zu meinem Protest-Adventskalender gehörten. Wenn ich schon keinen Weihnachtsbaum habe, dann wenigstes sowas. Da mir jedoch die genetische Veranlagung des Zügelungs-Gens fehlt und in meiner Religion Völlerei alles andere als eine Todsünde ist, wurden aus 24 Tagen 24 Minuten.

Chanukka, das Lichterfest. Weihachten, die Geburt Jesu. Die Geburt einer Religion, Stern über Betlehem, Erleuchtung, Neues. Chanukka, der wiederholte Triumph des jüdischen Volkes über seine Widersacher. Das ewige Wunder des Öles, das acht anstatt einen Tag brannte. Beide Feiertage, so unterschiedlich sie auch sind, bringen Licht ins Dunkle der unendlichen Dezemberschwärze. Zufall? G’ttes Wille? Oder doch nur Auswurf meiner Melancholie, vor der auch ich mich Jahr für Jahr nicht schützen kann? Facebook versorgt mich täglich, stündlich, minütlich mit weisen Status-Updates zu den Top-Ten-Themen der Weihnachtszeit. Glückseligkeit, Frieden, Erleuchtung, Liebe. Themen mit Tiefe, die in den sozialen Netzwerken ein kleines schwarzes Herz als Sinn-Accessoire erhalten – weil es so schön aussieht. Schaut sie euch an wie sie rennen, die Menschen da draußen. Rennend zu Kaufhof, Mediamarkt und Douglas. Auf der Suche nach dem idealen Weihnachtsgeschenk! Wobei sie doch am Ende auch nur wie benommen gegen das unaufhaltsame Ticken der Zeit anrennen. Ob Jude oder Christ, bis zum 31.12. wollen wir alle noch bessere Menschen werden, Christen setzen zum Ende des Jahres nochmal ihr ganzes Gutmenschentum in Bewegung, spenden alles was sie noch haben – außer den bedeutungsvollen Dingen – der Tafel, der Arche und dem Kinderheim ihres Vertrauens. Was man das ganze Jahr über nicht macht, soll schließlich zur Weihnachtszeit genügen. Juden rennen mit muffigem Gesicht, Schokobanane in der einen, Crêpe in der anderen Hand, über den Weihnachtsmarkt und hinterfragen den Sinn der Weihnacht. Jesus war schließlich Jude.

Auch in mir brennt der Wunsch nach Bewegung, nach Abschluss des Jahres, nach Erleuchtung. Doch gerade während dieser Tage, geblendet durch Nazi-Santa und Giganto-Chanukkia, fällt mir mein persönliches Personality-Placement wirklich schwer. Tagtäglich beschäftige ich mich berufsbedingt mit Marken, deren Inhalten und Charakteren. Ich gebe ihnen eine Form, ein Gesicht und eine Identität. Ob Sport, ob Musik, Fashion oder Lifestyle – die Worte scheinen mir nicht auszugehen. Und ich? Wo finde ich meine Erleuchtung auf die ewigen Fragen jüdische Deutsche, Weihnukka, Heiligabend-Karpfen oder gefillte Fisch? Beschnitten oder behangen, Moritz oder Moische? Keine andere Zeit des Jahres schafft es auch nur annährend mit dem Glanz der Weihnachts- und Chanukka-Tage zu konkurrieren. Sämtliche Erwartungen für eine bessere Zukunft, ob beruflich oder persönlich, werden in den flackernden Adventskranz und das Zündens der ersten Chanukka-Kerze gelegt. Flammen voller Verantwortung, die das Licht am Ende des Jahres-Tunnels sind, und uns gefälligst inneren Frieden verschaffen mögen.

Zuhause angekommen erlebe ich mein persönliches Weihnukka-Wunder: Ein Parkplatz vor meiner Haustüre. Funkelnde Sterne am Himmelszelt weisen mir zwar nicht den Weg nach Betlehem – in diesem Moment fällt mir ein, dass ich meinen anstehenden Tel Aviv-Urlaub immer noch nicht gebucht habe – aber gut tut es trotzdem, das kurze Innehalten vor dem wunderschönen, fettigen Chanukka-Chaos, das mich in wenigen Minuten erwartet. Ein Innehalten, das es für kurze Zeit egal sein lässt, ob man sich an Lichtermeer oder Latkes erfreut, ob wir an die Geburt eines Heiligen oder das Weiterbestehen eines Volkes glauben. Solange wir am Ende des Jahres unserer Identität einen weiteren Schritt näher gekommen sind, ist doch alles gut. Nicht gut ist zum Beispiel, dass mir gerade drei Flaschen Sonnenblumenöl auf dem Bordstein zerschellt sind. Aber beseelt, besinnt und benommen wie ich bin, rufe ich in McGiver-Gedächtnis-Manier das Pizzataxi an. Dort, wo die Pizzen besonders ölig sind und nicht nur einen Tag, sondern ganze acht Jahre auf deinen Hüften sitzen…

Merry, happy Weihnukka & ein frohes, neues Jahr.