Das Zimmer meiner Urgroßmutter war ein “geschlossenes Haus” – niemand hatte Zutritt und auch sie verlies es nur selten. Ihre Wanderung schien zu Ende zu sein, ihr Denken war ebenso eingeschlossen wie ihr Leib und scheinbar nichts konnte die Zitadelle aufbrechen, die Mauern niederreißen.

Als Kind, dessen Gedanken beginnen, sich selbständig und unabhängig von der Umgebung zu machen, gelang es mir einmal zu ihr vorzudringen. Ihr Zimmer schien das eines Messi zu sein, Kisten und Kartons stapelten sich bis unter die Decke, ein schmaler “Trampelpfad” führte durch das Chaos am Bett vorbei bis zum Fenster, wo eine Menora stand.
Ich entdeckte, dass das scheinbare Durcheinander gar keins war, sondern alles tatsächlich eine wohl durchdachte Ordnung hatte – meine Großmutter hatte einen kompletten Hausstand in ihrem Zimmer eingelagert: Geschirr, Bettwäsche, Werkzeuge, Papiere – alles war geordnet und nach Wichtigkeit in die Kisten und Kartons verpackt. Die Beschriftung ließ sie jedes Teil, falls es irgendwann gebraucht werden sollte, sehr schnell finden. Meine Urgroßmutter war bereit, jederzeit wäre sie in der Lage gewesen, aufzubrechen und irgendwo, ja, wo eigentlich, neu anzufangen. Mir wurde bewusst, das sie niemals aufgehört hatte, dass ihre Wanderung niemals zu Ende gegangen war, sie nur rastete. Das Bild – meine Urgroßmutter steht am Fenster und zündet, als es langsam dunkler draußen wird, die Kerzen der Menorca an, und ich frage sie, ob sie tatsächlich weit weggehen will irgendwann. Sie schaut auf mich herab und sehr beiläufig antwortet sie mit einer Gegenfrage: “Weit weg von wo.”

Niemals wieder ist mir so bewusst geworden, dass die Heimatlosigkeit und parallel dazu die Sehnsucht nach Heimat, tatsächlich das ruhelose Wandern, wie es Ahasver bestimmt war, so sehr mit unserem Volk verknüpft ist, ja, es eine psychosoziale Komponente unseres Seins darstellt. Sie ist angelegt in unseren Gebeten, in den Regeln, nach denen wir, ohne nach der Richtigkeit dieser Regeln zu fragen, selbstverständlich leben – in der Diaspora und “ba ha aretz”, wir alle nehmen es hin und versuchen uns einzurichten – für den Moment, egal, wie lange er andauern mag. Esoterische Erklärungsversuche greifen ins Leere und auch die schöne Formulierung – “Heimat finde ich nur in mir” – gibt nur unzureichend wieder, was das Wandern, die Diaspora für uns bedeutet.

Stellen wir nicht unseren Alltag immer in Frage, wenn wir dieser Sehnsucht und dieser Rastlosigkeit latent nachgeben? Sind wir alle Ahasver, auch, wenn wir ‘angekommen’ sind, uns eingerichtet haben in einer Fremde? Welches Gewissen plagt uns, uns nicht auf die Sozialisation einzulassen, die wir doch irgendwie gewählt haben, wir uns aber in unterschiedlichen Ausprägungsgraden weigern letztendlicher, absoluter Teil davon zu sein? Wir übernehmen vielleicht gerade daher so gern gesellschaftliche Verantwortung, weil wir stets einen gewissen Anteil an Distanz bewahren, unser Bewusstsein eben nicht vom sozialen Sein realiter bestimmt wird?

Und – wieviel Motiv des Ahasver verbirgt sich hinter dem scheinbar so alltäglichen und gleichzeitig besonderen – beispielsweise eines Stalkers (nicht im gebräuchlichen Sinne, dass jemand eine andere Person durch permanente Beobachtung verletzt)?

STALKER (Сталкер)
Einen Ring aus Eisen, daran eine blutige Binde gebunden,
flatternd im Wind des Wurfes aus der Hand des Stalkers: gefunden
ein Weg in die Sehnsucht, aus Hoffnung und Schmerz gemacht,
verloren in den Gleisen der Loren des Glücks, verraten, verlacht

von den Salven der Vernunft, getroffen von den Kugeln der Waffen
der Guards gegen das Glück der Männer, das Kind geschaffen
aus Trauer – Obratnaya Storona – gesäugt in Armut mit Gift.
Die Frau zurückgelassen im Haus der nassen Dielen, die Schrift

vergessen, nur noch im löchrigen Gedächtnis, wie das Wünschen mal
gewesen sein muss, jetzt einen Raum dazu brauchend, endlose Qual
dem Ring aus Eisen zu folgen, der Stalker und sein Regisseur: das
Kämpfen um das Sehen: Zerstörung, Vernichtung, kein Leben, was

den Namen Gottes trägt, prosperierend nur an den fasernden Rändern,
das Zentrum aus Nichts gebaut, Fühlen abgeflaut, nichts wird sich ändern,
von Ewigkeit zu Ewigkeit, von Gestern zu Heute und Morgen.
Wie an einer Nadel hängend, das Sehnen unter Seelenschutt verborgen,

haben sie das Wunder gesehen und den Schatz vergeblich gehoben,
die Helden der Zone – befehlen und gehorchen, Realität verschoben,
Zeit ohne Bedeutung, Angeklagte des Glücks, Verlorene des ‘Hier’.
Und in allem fällt das Publikum in ein ach so großes ‘Wir’.

Die Farben des Broms erobern das Bild, der Bart falb & grau,
Tristesse des Ekels und die Schönheit des Verfalls – von lau
zu heiß und wieder eiskalt die Gedanken ganz langsam verwoben
zu einem Kelim aus Melancholie, “Aber das ist zu wenig” da oben.

(wird fortgesetzt)