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Shalom liebe Jewdysseeianer…
ick bin die Neue hier und möchte direkt mal mit einem eher ungemütlichen Thema mit Euch auf Tuchfühlung gehen. Nicht nur weil es mir am Herzen liegt, nein, auch weil es so gut in die Festtagszeit passt. Und das nicht, weil es etwa eine süße Geschichte ist. Sondern viel mehr, weil ich einen Denkanstoß für das neue Jahr geben möchte und hoffe, dass dies vielleicht zwischen dem Verzehr von Granatäpfeln, Honig und allen anderen Neujahrsleckereien, an der ein oder anderen Stelle guten Gesprächsstoff bietet.

Vor einigen Wochen fand eine hetzige, Pardon, hitzige Diskussion, in einer Facebook Gruppe namens „Swiss, Germans and Austrians living in Israel“ statt. Diese Plattform ist für Deutschsprechende in Israel gedacht, die sich untereinander austauschen wollen. Bis dahin habe ich persönlich, wie auch mehrere meiner Freunde, diese Plattform sehr häufig und gerne genutzt. Seither nutze ich sie nur noch ungern und sporadisch, das aber nur mal so am Rande.

Es ging in besagter Diskussion, wie in vielen Gruppen, Foren, etc. in letzter Zeit, um das brisante Thema „Kölner Landgericht verbietet Ärzten religiöse Beschneidung“, in unserem Fall also Brit Mila. Die Mehrheit war klar gegen das Verbot, einzelne Stimmen dafür. Doch was als Diskussion begann, wurde nach nur kurzer Zeit eine Art zelebriertes Mobbing und Rausschmiss einer andersdenkenden Nichtjüdin aus der Gruppe (einfachheitshalber nenne ich sie ab jetzt „die Leidtragende“).

Eben diese hat sich in vielerlei Hinsicht höchst unglücklich ausgedrückt und einige Ansichten geäußert, die eigentlich mehr Mitleid, als Empörung in einem hervorrufen müssten….ganz so, als stelle man sich den Elefant im Porzellanladen mal aus der Sicht des Elefanten vor.

Offensichtlich geblendet von schmerzlichem Kummer vertritt die Leidtragende Meinungen, die man ganz klar als grenzwertig bezeichnen kann…
Die chinesische Medizin besagt wohl, dass Männer ohne Vorhaut aggressiver sind. Diese These hat sie auf jüdische und muslimische Männer bezogen, um nur ein Beispiel zu nennen. Dies wurde mit viel Tamtam und noch mehr Plemmplemm als Antisemitismus, Judenhass, etc. ausgelegt. Zudem vertrat die Leidtragende die Meinung, dass die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland eine super Sache ist und die religiöse Beschneidung generell verboten werden sollte. Deswegen fand sie das Gerichtsurteil gut und hat das Alles auch mit sehr viel Pathos geäußert.

Als sie dann auf ein mal gleichzeitig von mehreren (jüdischen) Gruppenmitgliedern regelrecht attackiert wurde, entstand ein Gewusel aus Missverständnissen und deplatzierten Äußerungen.

Plötzlich wurde ein YouTube-Video inklusive gehässigem Kommentar gepostet, in dem ein Bericht über die Leidtragende gezeigt wurde. Es war ein Beitrag aus dem israelischen Fernsehen und es wurden auch noch weitere Zeitungsberichte gepostet, u.a. aus der Jüdischen Allgemeinen.
(http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/5502/highlight/Berit&Kessler)

Kurz zusammengefasst:

Sie kommt vor über zehn Jahren nach Israel, lebt ein Jahr lang in einem Kibbutz und verliebt sich in einen in Israel lebenden Beduinen. Sie zieht irgendwann zu ihm, tritt der Form halber zum Islam über und wird nach islamischem Recht verheiratet. Erst verliebt, dann verbittert. Hat drei Kinder mit ihm. Lebt wie im Gefängnis. Er schlägt und vergewaltigt sie. Sie trennt sich, er entführt zwei der drei Kinder. Sie ist machtlos. Die israelischen Behörden, in diesem Fall ein Scharia-Gericht, sind ihr; egal was sie tut, nicht sonderlich wohlgesonnen. Entschieden wird, dass der Mann das alleinige Sorgerecht für alle drei Kinder erhält und sie das Land nicht mit ihren Kinder verlassen darf. Also lebt sie hier und hofft auf ein Wunder.

Auch wenn man sonst schnell die Antisemitismus-Karte zieht und selbst wenn man hier vorher alles in den falschen Hals gekriegt hat, muss einem doch spätestens jetzt klar werden, dass da die pure Verzweiflung aus der Frau spricht.

Denkste…

Statt dessen wurde sie öffentlich denunziert, diskriminiert und beleidigt. Der bis heute unbegründete Rausschmiss aus der Gruppe krönte den ganzen Prozess und wurde mit geschwollener Brust von den verantwortlichen Mitgliedern gefeiert. Einen inneren Reichsparteitag der ganz besonderen Art, würden leichtzüngige Zyniker, oder verwirrte Fernsehmoderatorinnen das wohl nennen.

Es dauerte ca. 50 Kommentare bis die Leidtragende aus der Gruppe entfernt wurde. Danach gings dann noch mal richtig zur Sache – in ca. 200 weiteren Kommentaren – und übertrumpfte das Bisherige fast. Dazu aber gleich mehr.

Ein Gedanke der mich die ganze Zeit über begleitet hat war „…wenn das die Runde macht, OY VEY!“. Ich als PR-Mensch habe mir natürlich direkt das Worst-Case-Szenario vor Augen geführt, bei dem man sich für den Moment wünscht blind zu sein – und taub und stumm.

Trübsal, Dummheit, Boshaftigkeit, Arroganz, Ignoranz, schlechte Erziehung und meiner Meinung nach psychische Störungen gaben sich die Klinke in die Hand. „Du scheiß Antisemitin“ , „Geh zurück in Dein Adolfland“, oder „Du hast es doch gar nicht anders verdient“, waren leider nur die Spitze des Eisbergs.

Viel widerlicher war es, mitzuverfolgen wie die sich erst bilderbuchmäßig gegenseitig gepusht haben. Bis sie erreicht hatten was sie wollten und dann entweder verstummten, ihre Kommentare löschten, oder begannen, ihre Kommentare mit einem ganz anderen Kontext zu rechtfertigen. Da waren wirklich ein paar Wortakrobaten der Extraklasse dabei. Die haben alles, aber auch wirklich alles verdreht, was auch nur im entferntesten in eine andere Richtung als ihre eigene ging. Mein Gehirn stand vor lauter Überforderung teilweise kurz vor dem Totalausfall.

Nach dem Rausschmiss habe auch ich meinen Senf dazugegeben, weil mir einfach die Finger zu sehr gekribbelt haben. Ich habe also Stellung für Brit Mila und gegen Mobbing bezogen, mehrere messerscharfe Spitzen fallen lassen und den Kommentar extra provokativ mit „…Ihr seid echt die besseren Nazis, von Euch hätten die damals noch was lernen können…“ beendet. Ja, ich weiß. Ich hätte auch auf sanftere Art provozieren können. Aber laut Sarrazin teile ich ein bestimmtes Gen mit Sarah Silverman und Co, das erklärt dementsprechend alles.

Es blieb, bis auf ein paar Like’s, gänzlich unkommentiert. Was mich dann doch gewundert hat, nachdem ich die Adressierten ziemlich eindeutig an den Pranger gestellt hatte und diese sich ja bereits im Vorfeld mehr als angriffslustig zeigten.

Und wie aus dem Nichts, oder besser gesagt, durch einen dieser eben erwähnten Wortakrobatenimnegativensinne, wurde doch tatsächlich darüber gestritten in welcher Form man sich gegenseitig anzusprechen habe, wie jüdisch man ist, ob man jüdisch genug ist, ob man sich nur jüdisch nennt oder auch jüdisch ist, was einen zum Juden macht, was einem zu einem guten Juden macht, was einen zu keinem Juden macht, bliblablup undsoweiterundsofort.
Es entstand also eine neue Diskussion, in der sich nun Juden gegenseitig größtenteils mit erhobenem Zeigefinger eine schleppende Wortschlacht lieferten, die an wenigen Stellen amüsant und an den meisten Stellen mehr als beschämend war.

Die Religiöseren haben jeden Funken Kritik ganz elitär an sich abprallen lassen. Da wurde mit viel Vorurteil und noch mehr Stolz eine „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“-Attitüde an den Tag gelegt. Sie haben beleidigt gemotzt, nach Belieben verdreht  und Doppelmoralapostel gespielt, denn die weniger bis gar nicht Religiösen haben versucht mit tatsächlichen Argumenten, Humor und Sarkasmus dagegenzuhalten.

Also möchte ich uns alle an dieser Stelle kurz daran erinnern, das wir Juden EIN VOLK sind. Wir, die vor allem durch eine schreckliche Vergangenheit, welche tief in unseren Seelen sitzt, wortlos den Schmerz miteinander teilen und somit eine Verbundenheit erfahren, die uns zu Brüdern und Schwestern macht.

Abgesehen davon, dass wir nicht einfach schimpfende Nichtjuden als Antisemiten betiteln und uns aufführen können wie wir wollen, weil es um jüdische Belange geht, sollten wir einander nicht daran messen, wie religiös wir sind, wie viele Bräuche wir einhalten, wie oft wir in die Synagoge gehen, oder wie genau wir die Tradition wahren…denn wie mein Opa immer zu sagen pflegte „a Jid is a Jid“ und daran wird sich auch nichts ändern. Was wir ändern können, ist die Art wie wir miteinander und anderen umgehen!

In diesem Sinne…a gut Johr, Shana tova u’metuka, frohet Neuet…und sonnige Grüße aus Tel Aviv