Der Mythos, der durch seine bloße Existenz seit 2000 Jahren für Inspiration sorgt – gute manchmal, und oft auch schlechte: die Ausgeburt kranker Hirne sorgte für “Der ewige Jude”, ein Film, der im sogenannten ‘Dritten Reich’ den Holocaust propagandistisch vorbereiten sollte und in dem der ‘ewig wandernde Jude’ mit einer Schar Ratten verglichen wird. Im großartigen Roman Stefan Heyms wird die mysthische Figur des Ahasver zum Vehikel, die Zeiten von Diktatur – in wessen Namen auch immer dort Tyrannei stattfindet – zu geißeln. Ahasver ist Gegenstand von Fresken, Bildern, Predigten christlicher Priester, Vorlage für Opern und Forschungsobjekt von Dissertationen der Religionswissenschaft.

In den Büchern ‘Esra’, ‘Daniel’ und ‘Esther’ taucht Ahasver auf und in einem der sogenannten Apokryphen – das Buch ‘Tobit’ (Tobias) wird auf die Figur Bezug genommen. Das, womit wir heute allerdings den Stoff, den Namen “Ahasverus” verbinden ist geprägt von der Nazipropaganda – zu unrecht.

Hat sich nicht tatsächlich dieses Schicksal erfüllt, ein rastlos durch die Welt streifender Mensch zu sein?
Sind wir in der Diaspora nicht alle die Nachkommen von Ahasver? Und nicht nur für die Nachgeborenen scheint das zuzutreffen, sondern auch für die Vorfahren.
Ist “Ahasver” nicht einfach eine Allegorie auf dieses Schicksal, angefangen vom ‘Irrweg’ durch den Sinai, weiter über die Wanderung der Essener und schließlich die bis heute anhaltende Diaspora? Und ist es nicht eine unserer sozialhistorischen Wurzeln, Wanderer, Nomaden zu sein?

Manchmal mutet es in einer immer globalisierteren Welt anachronistisch an, wenn der Ruf immer wieder in uns klingt, ‘nach Hause’ zu kommen, also die Wanderschaft zu beenden. Und trotzdem hören wir diesen Ruf und er ist allgegenwärtig – ob wir wollen oder nicht. Die Bewusstheit für dieses ‘ewigen Rufen’ scheint mir aber nicht nur eine Prüfung zu sein, sondern immer auch eine ‘Gnade’. Wir dürfen damit immer die ‘Heimat’ verbinden und tragen sie dadurch stets in uns, wo auch immer wir uns gerade befinden.

Und nicht nur in unserem Bewusstsein, sondern auch in dem, unserer Freunde, Kollegen und Bekannten ist es wie eingebrannt und gebiert manchmal auch unterschwelligen Antisemitismus. Wie sonst ist es zu erklären, dass ich plötzlich in eine Position der Rechtfertigungsnot versetzt werde, wenn die israelische Regierung irgendwelche für die Welt und oft auch für mich unverständlichen Entscheidungen trifft. Warum muss ich mich rechtfertigen, wenn Moshe Katzav wegen sexueller Belästigung angeprangert wird?
“Was ist denn mit deinem Präsidenten los?”
Diese Fragen schließen mich aus dieser bundesdeutschen Gesellschaft gedanklich aus, denn es ist eben nicht mein Präsident, sondern der Präsident Israels.

In Zeiten einer gesellschaftlichen Dunkelheit, in Zeiten der persönlichen Verwirrnis, des Kummers und der Trauer wie in Zeiten der Freude ist die fast schon ‘genetische’ Sehnsucht nach Wanderung präsent.

Welche Bedeutung hat das für unser Zusammenleben in Deutschland? Meiner Meinung nach gibt es mehrere Aspekte dieser Frage: sozialpsychologische, politische und religiöse.

(wird forgesetzt)